Praxeologie (Sozialtheorie)

Die Praxeologie (auch Praxistheorie, zuweilen ist auch von einem practice oder practical turn die Rede) ist eine soziologische und philosophische Sozial- und Kulturtheorie (bzw. eine Gruppe sozialtheoretischer Überlegungen), die das Soziale versteht als von Körpern ausgeführte Praktiken.

Die Praxeologie ist damit einerseits eine Mikrosoziologie in dem Sinne, dass sie das Soziale („Gesellschaft“ und Kultur) nicht mit Bezug auf „entkörperlichte“ Strukturen denkt (klassischer Strukturalismus), sondern dessen Gemachtheit in alltäglichen Handlungen betont, als etwas, das „getan“ werden muss („doing culture“, vgl. auch Handlungstheorie). Sie gehört zu den konstruktivistischen Kulturtheorien, wendet sich aber auch gegen in den Kultur- und Sozialwissenschaften sonst häufig anzutreffende Vorstellungen, die das Soziale von – immateriellen – Ideen, Weltbildern, Normensystemen oder sprachlicher Kommunikation her verstehen, und damit auch gegen den linguistic turn. Für die Praxeologie ist die Körperlichkeit der Praktiken und die Materialität der Kontexte einschließlich ihrer Artefakte entscheidend – Praktiken sind Aktivitäten des Körpers in einer materiellen Umwelt (vgl. auch material turn und neuer Materialismus).

Praktiken müssen aus praxistheoretischer Perspektive vom Handelnden nicht notwendigerweise intendiert werden, sondern erstrecken sich auch auf dasjenige alltägliche Verhalten, das nicht oder nicht mehr bewusst reflektiert wird, weil es mithilfe von implizitem Wissen oder Körperwissen mehr oder weniger automatisch, routiniert (also empraktisch) abläuft, wie beispielsweise die Fingergriffe beim Schreiben auf einer Computertastatur. Damit wendet sich die Praxistheorie von vor allem in den Wirtschaftswissenschaften häufig formulierten rationalistischen und subjektivistischen Modellen (wie der zufällig ebenfalls als „Praxeologie“ bezeichneten Konzeption von Ludwig von Mises und auch dem Modell des homo oeconomicus generell) ab, die von rationalen, bewusst und intentional handelnden Akteuren ausgehen (rational choice). Weil die meisten dieser Praktiken trotzdem erlernt sind, geht die Praxeologie von der historischen und kulturellen Spezifität von Praktiken – und damit des Sozialen – aus. Praktiken wandeln sich beständig, womit die Praxeologie auch für die Geschichtswissenschaften interessant wird.[1] Auch in der neueren Ethnologie, Sozial- und Kulturanthropologie wird häufig praxeologisch argumentiert und geforscht.[2]

  1. Vgl. z. B. Lucas Haasis, Constantin Rieske: Historische Praxeologie – Dimensionen vergangenen Handelns. Paderborn 2015 (werkstattgeschichte.de [PDF]).
  2. Vgl. etwa Gerd Spittler: Anthropologie der Arbeit. Ein ethnographischer Vergleich. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-10433-7.

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